Essen will gelernt sein

"Ein Kind isst eben auch das, was es kennt"

Noch herrscht Ruhe vor dem Sturm. Die Kantine der Realschule in Kulmbach ist ab 11:30 Uhr geöffnet. Zwei Serviceangestellte richten das Salatbuffet an, der Koch ist in der Küche zugange. Dann stürmt plötzlich eine zwanzigköpfige Horde an Heranwachsenden die Kantine, drängelt sich vor die Theke, besetzt Tische. Der Grund für das Gerangel: Heute ist „Kindertag“ an der Realschule Kulmbach. An diesem Tag geht die Küche auf die Wünsche der Schüler ein. In diesem Fall bedeutet das: Kaiserschmarrn.

„Unser gesundes Angebot muss manchmal durch ein Schnitzel oder wie heute Kaiserschmarrn aufgelockert  werden, sonst sind die Schülerzahlen rückläufig“, erklärt Michael Stöcker, der sowohl der Realschule als auch dem Markgraf-Friedrich-Gymnasium in Kulmbach als Koch zur Verfügung steht – „Ein Kind isst eben auch das, was es kennt“. Unbekannte Speisen müssen bei den jungen Essern immer erst die langwierige Phase des „Mögen-Lernens“ durchlaufen und werden daher selten gewählt.1

Eine Schulmensa könne aber natürlich nur dann erfolgreich betrieben werden, wenn die der Kalkulation zu Grunde liegenden Abnehmerzahlen eingehalten werden, erklärt Stöcker. Das bedeutet, dass er die schwierige Aufgabe bewältigen muss, ein Speiseangebot zu schaffen, das eine ausreichende Nährstoff- und Energiezufuhr gewährleistet, eine entsprechende Menge an Obst und Gemüse vorsieht, sich an den Essgewohnheiten der Schüler orientiert und nebenbei auch noch schmeckt.

Von Vorbildern essen lernen

Um dieses Vorhaben umzusetzen, werden Lehrer und Schüler in die Speiseplangestaltung einbezogen. Und auch die Eltern dürfen durch Listen und eine Bestellplattform im Internet auf das Essensangebot einwirken. „Wir achten darauf, sehr viele nahrhafte Gerichte anzubieten. Die Verantwortung liegt letztlich aber bei den Kindern oder Eltern, die Gerichte auszuwählen, die eine ausgewogene Ernährung ausmachen“, erklärt der gelernte Koch. Dass die Anleitung zu gutem und gesunden Essen im Elternhaus vonstatten gehen sollte, befürwortet auch Ernährungsberaterin Stephanie Meier: „Wir Eltern haben die Vorbildfunktion“.

Diese Rolle als „Modell“ wird zuhause oft unterschätzt, obwohl Nachahmung eine typische Form des kindlichen Lernens ist. Das betrifft auch Essgewohnheiten.2 Als Elternteil diesbezüglich ein gutes Vorbild zu sein, kann mehr nützen als Versuche, die Ernährung der Kinder zu kontrollieren, einzuschränken oder durch Belohnung und Bestrafung zu steuern. So werden die gewünschten Ziele oft nur kurzfristig erreicht. Gesundheitliche Argumente haben oft ebenfalls nicht den beabsichtigten Effekt, vor allem nicht, wenn die Eltern selbst keine gesunde Ernährungsform vorleben.2

Und wenn schon in Kindertagen öfter mal ein ‚Apfelschnitz‘ zum Frühstück auf dem Teller lande, dann sei es eben auch wahrscheinlicher, dass im Erwachsenenalter eher zum Obst gegriffen werde – weil man es gewohnt sei, erklärt Stephanie Meier. Der „mere exposure effect“ beschreibt das Phänomen, dass Kinder nicht „‘essen was sie mögen‘, sondern sie lernen, zu mögen, was sie essen‘“3.

Frühe Erfahrungen mit dem Essen sind oft für ein Leben lang prägend.2  Dies legt auch eine 2004 veröffentlichte Langzeitstudie der französischen Wissenschaftlerin Sophie Nicklaus und dem Nationalen Agrarinstitut in Dijon nahe. Kleinkinder, die hauptsächlich Fast Food zu sich nehmen, werden dies demnach wahrscheinlich auch noch im Erwachsenenalter tun.4

Convenience food ist heute bei Kleinen nicht verwerflich oder selten.5 „Unsere Zeit ist sehr kurzlebig geworden. Ein Gericht aus der Mikrowelle dauert zwei Minuten. Ping, Packung auf, fertig. Es ist einfach“, sagt Stephanie Meier. Doch welche Wirkung haben Fertigprodukte auf den kindlichen Körper?

Viele der typischen Inhaltsstoffe sind mittlerweile in Kritik geraten, so zum Beispiel auch industrielle Aromen. Nach Angabe des Food-Journalisten Hans-Ulrich Grimm können sie den Geschmackssinn eines Kindes irreleiten: „Erdbeeren schmecken nach Erdbeeren, weil die Nährstoffe drin sind, die in Erdbeeren enthalten sind. Wenn der Geschmack aber nur vom zugesetzten Aroma kommt, fehlen die Nährstoffe. Das Kind wird getäuscht“6, schreibt er in seinem Werk „Gesundes Essen für unsere Kinder“. In der Folge sei es möglich, dass das Kind weiter esse, weil es in anderen Lebensmitteln die erforderliche Menge an Nährstoffen suche.7 8

Formen der Fehlernährung

Viele Studien legen dar, dass Kinder, die häufig Fast Food essen, dicker sind als ihre Altersgenossen.9 Nach der KiGGs-Studie des Robert-Koch-Institutes stagnieren die Übergewichts- und Adipositasprävalenzen bei Heranwachsenden auf hohem Niveau. Heute leiden ca. 15% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren in Deutschland an Übergewicht.10 Für die Betroffenen können unter anderem Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes, Gelenkprobleme oder auch Depression die Folge sein.

Generell gilt: Wer in jungen Jahren starkes Übergewicht entwickelt, wird wahrscheinlich auch später noch damit zu kämpfen haben.11 „Es kann früh eine Art Spirale entstehen“, erklärt Stephanie Meier. „Nehmen wir als Extrembeispiel einen Jugendlichen, der nachmittags nach Hause kommt. Die Eltern arbeiten beide noch. Er hat Hunger, greift zu einem kalorienreichen Fertiggericht und setzt sich vor den Computer. Das Ganze wird zu einer Art Ritual, wenn er heimkommt. Er sitzt immer länger vor dem PC, isst somit immer mehr. Er wird dicker. Er zieht sich in die virtuelle Welt zurück, macht weniger Sport, weil es immer anstrengender wird, Sport zu machen, und isst immer mehr. Er wird dicker.“

Aber es gibt auch das andere Extrem: Wenn Kinder zu wenig von allem bekommen, nicht genug oder unregelmäßig essen. Insgesamt gibt es rund bei einem Fünftel der Pubertierenden (13 – 17 Jahre) Hinweise auf ein gestörtes Essverhalten, das heißt auf Magersucht, Bulimie und Binge-Eating-Disorder (Heißhungeranfälle).12 Gerade die Zahl der an Magersucht erkrankten jungen Frauen im Alter von 15 – 19 Jahren hat sich nach 1990 laut einer Studie eines Forscherteams in Oxford von 2016 deutlich erhöht. Auch die Altersgruppe unter 14 Jahren verzeichnet Zuwächse.13

Essstörungen resultieren oft aus psychischen Problemen und signalisieren in der Regel Verweigerung, Resignation oder Anpassung. Oft in Verbindung gebracht  werden sie mit einem unrealistischen Erscheinungsbild, das von Medien als Ideal propagiert wird.14 Hier wird wieder deutlich: Junge Menschen orientieren sich an Vorbildern. Diese können Figuren aus der Werbung, aber auch Personen des näheren Umfeldes sein.

Die Unterstützung der Schulen

Essstörungen werden oft erst spät erkannt und von den Betroffenen meist geleugnet.15 „Es ist daher sehr wichtig, jemanden außerhalb des Unterrichts zu haben, der die Schüler über Jahre begleitet“, betont Angelika Sachs, Sozialpädagogin am Markgraf-Friedrich-Gymnasium in Kulmbach, „Lehrer können einzelnen Schülern oft nicht dieselbe Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum widmen, deshalb gibt es Schulpsychologen oder Sozialpädagogen, die diese Aufgabe übernehmen“.

Besonders die Gebundenen Ganztagsklassen (5./6.) werden von ihnen intensiv betreut, erklärt sie. Montags werde beispielsweise mit einem „Müsli bei Frau Sachs“ begonnen – hier kann die Sozialpädagogin das Essverhalten der Schulkinder genau unter die Lupe nehmen. Mittags bietet das Team von Michael Stöcker ein nährstoffreiches, ausgewogenes Mittagsmenü an. Da alle gemeinsam speisen, können auch hier Auffälligkeiten im Essverhalten schnell bemerkt und gegebenenfalls angesprochen werden.

Dass man immer zusammen esse, habe aber auch noch einen anderen Grund, erklärt Stöcker: Zuhause sei diese Praxis leider nicht mehr üblich. Das sei schade. Die Familienmahlzeit kann Heranwachsenden Stabilität und Sicherheit vermitteln und bietet die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen.16 „Wir essen zuhause immer gemeinsam“, sagt Michael Stöcker und ergänzt: „Und ich achte dabei auch darauf, den Kindern zu vermitteln, wie etwas zubereitet wird, wie etwas schmeckt, wie etwas riecht“. Man könne den Geschmacksnerv mit der richtigen Auswahl an Lebensmitteln in gewisser Weise sensibilisieren, erklärt Ernährungsberaterin Stephanie Meier:  „Zum Beispiel wenn ich meinem Kind beibringe, dass es mehr als nur eine Apfelsorte gibt – nämlich tausende, die alle unterschiedlich schmecken. Viele Kinder wissen das heute nicht mehr“.

Am Ende des Schuljahrs bietet Michael Stöcker aus diesem Grund auch Kochkurse an. Die Kinder sollen hautnah erleben, wie und woraus ein Gericht entsteht. Später wird ihnen dieses Wissen nützen. „Generell sollen immer mehr Alltagskompetenzen auch in den Schulen vermittelt werden“, sagt Sozialpädagogin Angelika Sachs. Dennoch bleibe die Schule immer familienergänzend, nicht -ersetzend, betont sie.

In der Kantine sind am „Kindertag“ viele Teller mit Kaiserschmarrn gefüllt. Vor zwei jungen Mädchen steht allerdings ein dampfender Seelachs mit Pellkartoffeln und Karotten. Beide greifen herzhaft zu. „Total out“ scheint Gemüse also nicht zu sein.

(1) Vgl. Birch, L. L.: Development of food acceptance patterns in the first years of life. Proceedings of the Nutrition Society 57, 1998, pp. 617–624, zit. nach Winkler, Gertrud: „Bedeutung von Umfeld und Ambiente bei Schulmahlzeiten“, in: Gesa Schönberger/ Barbara Methfessel: Mahlzeiten. Alte Last oder neue Lust?, Heidelberg 2011, S. 131-140.

(2) Vgl. Sabine Schmidt: „Wie Kinder beim Essen essen lernen“, in: Gesa Schönberger/ Barbara Methfessel: Mahlzeiten. Alte Last oder neue Lust?, Heidelberg 2011, S. 55-70.

(3) Pudel, V.; Westenhöfer, J.: Ernährungspsychologie. Eine Einführung, Göttingen 2003, zit. nach Sabine Schmidt: „Wie Kinder beim Essen essen lernen“, in: Gesa Schönberger/ Barbara Methfessel: Mahlzeiten. Alte Last oder neue Lust?, Heidelberg 2011S. 56.

(4) Vgl. Nicklaus S, Boggio V, Chabanet C, Issanchou S: „A prospective study of food variety seeking in childhood, adolescence and early adult life“, Appetite (2005), 44(3), S. 289-97, zit. nach Grimm, Hans-Ulrich: Gesundes Essen für unsere Kinder, München 2019, S. 62.

(5) Vgl. Alexy, U. u. a.(2011): „Convenience foods in children’s diet and association with dietary quality and body weight status“, in: European Journal of Clinical Nutrition, 65, p. 160–166.

(6) Grimm, Hans-Ulrich: Gesundes Essen für unsere Kinder, München 2019, S. 58ff.

(7) Vgl. Grimm, Hans-Ulrich: Gesundes Essen für unsere Kinder, München 2019, S. 58ff.

(8) Vgl. auch Wüstenhagen, Claudia: „Die Wahrheit über unser Essen“, in: DIE ZEIT, 05.08.2009, Nr. 5, URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2009/05/Essen/seite-2 [letzter Aufruf 20.03.2020].

(9) Vgl. Grimm, Hans-Ulrich: Gesundes Essen für unsere Kinder, München 2019, S. 61, vgl. auch Witte, Felicitas: „King-Size-Kinder“, in: Sueddeutsche Zeitung, 19.05.2010, URL: https://www.sueddeutsche.de/wissen/hamburger-pommes-und-co-king-size-kinder-1.910817 [letzter Aufruf 20.03.2020].

(10) Journal of Health Monitoring (2018): „Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittsergebnisse aus KiGGs Welle 2 und Trends“, 3(1) DOI 10.17886/RKI-GBE-2018-005.2, Robert Koch-Institut, Berlin, URL: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_01_2018_Adipositas_KiGGS-Welle2.pdf?__blob=publicationFile [letzter Aufruf 20.03.2020].

(11) Bundesministerium für Gesundheit: „Förderschwerpunkt Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen“, URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/kindergesundheit/praevention-von-kinder-uebergewicht.html [letzter Aufruf 20.03.2020].

(12) Robert Koch-Institut (Hrsg.)/Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) (2008): „Erkennen – Bewerten – Handeln: Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“, RKI Berlin, S.53.

(13) Josephine Holland u.a. (2016): „Trends in hospital admission rates for anorexia nervosa in Oxford (1968–2011) and England (1990–2011): database studies“, in: Journal of the Royal Society of Medicine, Vol. 109, Issue 2, URL: https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0141076815617651 [letzter Aufruf 20.03.2020].

(14) Hölling, H./Schleck, R.: Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 2007, Vol.50(5), pp.794-799.

(15) Vgl. BzgA (2010): „Essstörungen. Informationen für Eltern, Angehörige und Lehrkräfte“, verfügbar unter URL: https://www.bzga-essstoerungen.de/materialien/ [letzter Aufruf 20.03.2020].

(16) Audehm, Kathrin: „Erziehung und familiale Autorität bei Tisch“, in: Gesa Schönberger/ Barbara Methfessel: Mahlzeiten. Alte Last oder neue Lust?, Heidelberg 2011.

Wer sich für das Thema „Gesunde Ernährung für Kinder“ interessiert, kann sich auch mal hier umschauen:

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Posted by Ann-Kathrin Fischer