Irgendwie ging alles ganz schnell. „Nachgedacht habe ich erst später“, sagt Lena B.* Später – als der Nachbar die Polizei schon längst verständigt hatte und die Pakete schon in der Wohnung von Lena B. und Patrick W.* lagen. „Das war alles ziemlich dumm“, sagt Patrick W. Er blickt zu Boden, den Arm hat er um seine Freundin gelegt. Wenn er redet, klingt seine Stimme ruhig und vernünftig. Man sieht ihm an, dass ihm das alles zu viel wurde. Es waren die Schulden, die das junge Pärchen zu Straftätern machten. Das weiß auch die Richterin. Immer wieder nickt sie verständnisvoll, wenn die beiden Angeklagten erzählen. „Wir haben viel zu übertrieben gelebt“, sagt Lena B. Und auch ihr Freund gibt das zu: „Mit Geld konnten wir einfach nicht umgehen.“ Zu den Mietschulden kamen immer mehr unbezahlte Rechnungen, aus den Rechnungen wurden Mahnungen. Ihre Post öffneten die beiden irgendwann gar nicht mehr. „Vor den Problemen weglaufen“ nennt Patrick W. das. „Völlig dumm“, sagt seine Freundin, „aber wir waren wirklich verzweifelt.“ Die Richterin versteht das. „Und dann sind Sie auf dumme Gedanken gekommen“, sagt sie. Lena B. und Patrick W. sitzen noch immer eng umschlungen auf der Anklagebank. Sie sind jung, er Mitte 20, sie erst seit wenigen Jahren volljährig. Ruhig erzählen sie von Lena B.s Job als Postbotin. Von der Idee, Pakete verschwinden zu lassen und sie zu Geld zu machen. Und von dem Tag, an dem aus dieser Idee eine Straftat wurde.
Es passierte ganz schnell. Lena B. war als Postbotin unterwegs. In ihrem eigenen Haus stellte sie fünf Pakete im Flur ab. Fünf Pakete für fünf verschiedene Menschen, die nicht im Haus wohnten. Pakete, die Lena B. eigentlich ausliefern sollte. Stattdessen nahm sie Patrick W. an sich, schaffte die Päckchen vom Flur in die gemeinsame Wohnung. Fast 200 Euro war ihre Beute wert. „Aber ich wusste, dass das alles falsch war. ich wollte die Pakete wieder zurückbringen und am nächsten Tag ausliefern“, beteuert Lena B. Sie macht den Eindruck, wirklich alles zu bereuen, sieht die Richterin mit einem verzweifelten Blick an. Die scheint ihr zu glauben und nickt wieder. Lena B. senkt den Kopf und sagt dann: „Aber so weit kam es ja dann nicht.“ Denn ihre Tat flog sehr schnell auf: Ein Nachbar hatte alles beobachtet und die Polizei gerufen. Als der Nachbar vor Gericht erscheint, wird Patrick W. unruhiger. Seine Freundin sieht ihn immer wieder prüfend an. Sie scheint Angst zu haben, dass er die Fassung verliert – denn das würde ihr Urteil negativ beeinflussen. Auch der Richterin fällt der plötzliche Wandel auf. Sie scheint sich davon aber nicht beeinflussen zu lassen, richtet ihren Blick wieder auf den Zeugen. Der Nachbar beginnt mit seiner Schilderung, Patrick W. bleibt gelassen. Auch als der Nachbar erste vorwurfsvolle Blicke nach hinten zur Anklagebank wirft, kann Patrick W. sich noch zurückhalten. Lena B. wirkt angespannt, sieht ihren Freund immer wieder an. Der beißt sich auf die Lippen und schweigt. „Ich kann es nicht fassen, welche Nachbarschaft man hier heutzutage hat“, schimpft der Nachbar. Als das Wort „Drogen“ fällt und der Nachbar von „asozial“ und „aggressiv“ spricht, verliert Patrick W. die Beherrschung. Er schreit den Nachbarn an. Seine Freundin fleht ihn an, leise zu sein. Der Nachbar fühlt sich in seiner Sache bestätigt und zeigt auf Patrick W. Die Richterin wird lauter: „Herr W., machen Sie jetzt nicht alles wieder kaputt!“ Patrick W. schweigt. Seine Freundin und die Richterin atmen erleichtert auf, der Nachbar lehnt sich in seinem Stuhl zurück und versucht, ein Grinsen zu unterdrücken. Die Richterin sieht Patrick W. an. „Sie haben bei mir schon einige Pluspunkte gesammelt durch Ihr positives Verhalten“, sagt sie dann, „also reißen Sie sich bitte jetzt auch noch zusammen.“ Patrick W. nickt.
Als der Nachbar den Raum verlässt, verschwindet mit ihm auch die Anspannung. Im Gerichtssaal kehrt wieder Ruhe ein. Sie haben aus ihren Fehlern gelernt, beteuern die Angeklagten. Dank neuer Jobs verdienen beide nun besser. Eine Freundin hilft, Rechnungen und Briefe zu sortieren und abzuarbeiten. Die Richterin nickt zufrieden. Die Schulden werden weniger, sagt Patrick W. „Jetzt möchten wir mit dieser Aktion abschließen und vernünftiger werden“, bestätigt Lena B. Sie wird wegen Unterschlagung und wegen Verletzung des Briefgeheimnisses zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Sie nickt, nimmt das Urteil hin. Als die Staatsanwältin das Plädoyer für Patrick W. vorliest, gerät der in Panik. Die Staatsanwältin ist jung und zielstrebig. Die Worte der Reue beeindruckten sie wenig. Sie richtet sich nach den Fakten, zählt Patrick W.s Vorstrafen auf – und diese Liste ist lang. „Das sind alles Vermögensdelikte. Genau wie dieses Verbrechen auch“, sagt sie. Chancen auf Besserung sieht sie nicht. Sie richtet ihren Blick wieder auf ihre Unterlagen und liest. Das Wort „Freiheitsstrafe“ fällt. Patrick W. wird panisch. Er will nicht ins Gefängnis, fleht die Richterin an. Die will ihn beruhigen: „Die Freiheitsstrafe ist auf Bewährung. Sie müssen nicht ins Gefängnis – zumindest solange Sie sich jetzt nichts mehr zu Schulden kommen lassen.“ Patrick W. bricht in Tränen aus: „Aber in nächster Zeit kommt noch ein Verfahren auf mich zu!“ Der jungen Staatsanwältin mit dem Pokerface entgleiten die Gesichtszüge. „Das wusste ich nicht“, murmelt sie. Auch die Richterin wusste davon nichts. Doch schlussendlich entscheidet sie sich genauso wie die Staatsanwältin: Patrick W. erhält eine Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung. „Das Verfahren, das da noch auf die zukommt, wird von diesem Urteil nicht beeinflusst“, erklärt ihm die Richterin. Denn zum Zeitpunkt, als Patrick W. die zweite Straftat beging, hatte er ja noch keine Bewährungsstrafe. Patrick W. atmet erleichtert auf, seine Freundin nimmt seine Hand. „Aber ab jetzt gilt die Bewährung!“ mahnt die Richterin. Patrick W. nickt. Bevor Lena B. und er den Saal verlassen können, sieht die Richterin die beiden noch einmal prüfend an. Sie steht auf und sagt: „So, jetzt werden Sie mal erwachsen und kriegen Ihr Leben auf die Reihe!“
* Die Namen der Angeklagten wurden von der Redaktion geändert.