Wenn Tobias Lindemann in seine Trillerpfeife bläst, spitzt Diana die Ohren. Dann läuft sie los. Sie kennt dieses Geräusch, sie kennt den Weg: Durch das hohe Gras, vorbei an den vielen Bäumen, direkt auf die Felsformation zu. Hinter dem letzten Felsbrocken macht sie Halt und lugt vorsichtig hervor. Als Lindemann ihr einen Leckerbissen zuwirft, traut sie sich näher zu kommen. Elegant schleicht sie sich den kleinen Hügel hinauf, springt auf den obersten Stein und setzt sich dort hin. Diana ist eine ausgewachsene Luchs-Dame mit hellen Augen, großen Pfoten und langen schwarzen Pinseln an ihren Ohren. Wenn sie hier auf den Felsen sitzt, wirkt sie entspannt und scheint die Sonnenstrahlen zu genießen. Trotzdem bleibt sie aufmerksam, beobachtet ihre Umgebung genau. Dass sich ein zweiter Luchs der Felsformation nähert, bemerkt sie zuerst.
Es ist Charles, Dianas Partner. 2013 wurde er geboren, er ist ein Jahr älter als Diana. Auch er tastet sich erst langsam heran bevor er schließlich zu seiner Partnerin auf die Felsen klettert. Lindemann belohnt die beiden Luchse mit toten Küken, die er ihnen zuwirft. Charles reißt das Maul auf, Diana schnappt sich das Futter elegant mit der Pfote. Tobias Lindemann dreht sich von den Luchsen weg. „Sowas gibt es nur hier“, sagt er, „nirgends sonst sind die Luchse so zutraulich und friedlich.“ Hier- das ist der Wildtierpark Mehlmeisel. Lindemann arbeitet dort als Tierpfleger, für Diana und Charles ist Mehlmeisel ein Zuhause, in dem sie sich wohlzufühlen scheinen.
Diana – eine der drei Luchse im Wildtierpark Mehlmeisel. (Bilder: Marina Richtmann)
Albert, Bubi, Cäsar
Neben den drei Luchsen Charles, Diana und Viktor leben im Tierpark Mehlmeisel noch viele weitere Tiere: Von Dachs Erich, Birkhahn Albert und Wildschwein Margit über Fuchs Karli und Waschbär Bubi bis hin zu den Nonnengänsen Gundel und Klaas und dem Hirsch Hubertus. Hier trägt jedes Tier einen Namen. Hubertus wurde zum Beispiel nach dem „Heiligen Hubertus“ benannt, dem Schutzpatron der Jäger. Von diesem Mann wird eine Sage erzählt: Angeblich erschien dem Jagdfrevler Hubertus ein weißer Hirsch. Nach dieser außergewöhnlichen Begegnung verschrieb er sich der Kirche und wurde zum Schutzpatron der Jäger. Der Name Hubertus passte perfekt zum Rothirsch im Wildpark – denn Hubertus ist ein weißer Hirsch, sogar der einzige weiße Rothirsch Bayerns. Er lebt hier im Wildtierpark Mehlmeisel gemeinsam mit seinen rot-braunen Artgenossen „Zaun an Zaun“ mit den Luchsen und den Wildschweinen. Heute scheint Hubertus aber keine Lust zu haben, von den Besuchern bestaunt zu werden: Der weiße Hirsch lässt sich nicht blicken.
Liebe und Ehrlichkeit gegen den Arbeitsstress
Bei Hubertus‘ Nachbarn im riesigen Wildschwein-Gehege geht gerade das Gatter auf und Tierpfleger Tobias Lindemann tritt herein. Er muss nur wenige Schritte ins Gehege machen, da kommt ihm auch schon ein Wildschwein entgegen. „Hey Ludwig!“ ruft er und geht in die Hocke. Ludwig grunzt, sein Schwanz wackelt begeistert. Lindemann fährt ihm mit der Hand durch die Borsten. Ein zweites Wildschwein nähert sich. Es ist Keiler Benedikt. Lindemann steht auf, läuft ein Stück weiter ins Gehege hinein. Benedikt folgt ihm und stupst mit der Nase an Lindemanns Fuß. Als der Tierpfleger ihn streichelt, grunzt Benedikt begeistert und wirft sich auf den Boden. Lindemann kniet sich hin und streichelt weiter. Benedikt wirkt entspannt, es scheint ihm zu gefallen. „Tiere sind ehrlich“, sagt Lindemann. „Sie machen deutlich, ob sie etwas mögen oder nicht.“ Er grinst Benedikt an, der vor ihm auf dem Boden liegt. Man merkt deutlich, dass Lindemann den Tieren vertraut – und auch, dass dieses Vertrauen auf Gegenseitigkeit beruht.
Seit einem Jahr arbeitet Tobias Lindemann hier im Wildpark Mehlmeisel als Tierpfleger. Wenn man ihn fragt, was ihm an seinem Beruf am besten gefällt, lacht er und überlegt dann kurz. „Das ist eine gute Frage“, sagt er dann. „Im Grunde ist es das, was man von den Tieren zurückbekommt. Genau das hier.“ Lindemann schaut zu dem Wildschwein vor seinen Füßen. „Wenn man bei den Wildschweinen zum Beispiel die frisch geworfenen Jungtiere anschauen darf und die Mutter einfach liegen bleibt und dir quasi sagt: Schau mal her, meine neuen Jungtiere. Das ist das schönste an diesem Beruf“, ergänzt er. Der Tierpfleger liebt seinen Job – auch wenn der ihm einiges abverlangt: „Als Tierpfleger ist man jeden Tag bei jedem Wetter draußen, die Arbeit ist körperlich sehr schwer.“ Er versorgt die Tiere, kontrolliert ihre Gesundheit, hält Führungen, organisiert Futter und pflegt die Gehege – egal ob die Sonne siedend heiß herunterbrennt oder ob der Park fast im Schnee versinkt. Die Tiere brauchen ihn. Und Tobias Lindemann ist für sie da.
Die Tiere genießen die Streicheleinheiten von Tierpfleger Tobias Lindemann.
Über den Köpfen der Wildschweine
Während der Tierpfleger die Wildschweine versorgt, beobachtet ihn eine Schulklasse interessiert. Die Kinder besuchen die fünfte Klasse einer Thüringer Realschule. Ihre Schullandheim-Fahrt verbringen sie im Fichtelgebirge. „Wir waren schon auf dem Ochsenkopf und auf der Luisenburg“, erzählt ein Junge, „aber heute ist der schönste Tag bis jetzt!“ Auch seine Lehrerin ist begeistert vom Wildtierpark: „Die Gehege sind groß und artgerecht. Und trotzdem kann man die Tiere von hier oben aus super betrachten.“ Hier oben – damit meint sie die großen Holzbrücken. Auf einer von ihnen steht die Schulklasse gerade. Das massive Bauwerk führt die Besucher direkt über die Tiergehege und bietet damit einen einzigartigen Ausblick über die großen Gehege.
„Schau mal, da unten sind zwei große!“ ruft ein Kind und lugt über das Geländer. Direkt unter der Brücke baden zwei Wildschweine. Von den Gästen hoch über ihnen lassen sie sich nicht stören. Auch Tobias Lindemann steht mittlerweile wieder auf der Holzbrücke. Er wirft einen prüfenden Blick ins Rotwild-Gehege. Dort scheint alles gut zu sein. Und der weiße Hirsch Hubertus? – Der lässt sich noch immer nicht blicken. „Die Tiere haben Orte, an denen sie ungestört sind. Die Gehege sind groß, die Tiere können selbst entscheiden, wo sie sich aufhalten“, erklärt der Tierpfleger und setzt seinen Rundgang fort.
Auf den Brücken über den Gehegen können die Besucher die Tiere bestens beobachten.
„Respekt“ ist das Zauberwort
Für Lindemann geht es jetzt zu Charles, Diana und Viktor, den drei Luchsen. Auch Viktor hat gerade keine Lust auf Besuch. Nur Charles und Diana pirschen sich heran und springen auf die großen Felsen. Die Luchse wirken entspannt, sie sind an fremde Menschen gewöhnt. Manchmal dürfen Fotografen ins Luchsgehege. Dann posieren die Luchse, die großen Kameras klicken nah vor den Schnauzen der Tiere. „Solche zahmen Luchse habe ich sonst noch nirgends gesehen“, erzählt Lindemann. Während er spricht, dreht er sich von den Tieren weg. Diana kaut weiter genüsslich an einem Leckerli, Charles hat sich auf einen Felsen gesetzt und blickt in die Ferne. „Genau das meinte ich“, sagt der Tierpfleger. „Ich weiß genau, dass ich den Luchsen ohne Probleme den Rücken zudrehen kann. Sie respektieren uns, wir respektieren sie – das ist einfach ein wunderschönes Erlebnis!“
Er wirft Diana noch einen letzten Leckerbissen zu. Sie fängt ihn. „So, das reicht aber jetzt“, sagt Lindemann dann. „Gleich ist es vierzehn Uhr. Da führe ich eine Schulklasse durch den Park.“ Er steigt durch das hohe Gras zurück zum Gatter. Diana bleibt auf dem Felsen sitzen, Charles springt elegant nach unten und verschwindet hinter den Bäumen. Wenn Tobias Lindemann mit der Schulklasse am Gehege der Luchse ankommt, wird es wieder einige Leckerbissen geben. Ob die Luchse sich ihre Belohnungen dann abholen wollen, weiß der Tierpfleger noch nicht. Die Tiere entscheiden selbst, ob sie kommen wollen. Doch die Chancen dafür stehen gut – Denn wenn Tobias Lindemann in seine Trillerpfeife bläst, spitzt Diana meistens die Ohren. Und dann läuft sie los.
Tobias Lindemann weiß, dass Charles und Diana (hinten, von links) ihn nicht angreifen.
Hier befindet sich der Wildtierpark Mehlmeisel: