Am Ende der Straße steht ein älteres, etwas düster wirkendes Haus. Der Putz an der Hauswand ist abgeplatzt, die grünliche Wandfarbe verblasst. Nur in der unteren Etage scheint es von Leben erfüllt zu sein. Von außen kann man die Silhouette einer etwa 1,65 Meter großen Gestalt im Schaufenster erkennen. Die grelle Beleuchtung im Erdgeschoss lässt die Schattengestalt entstehen. Beim Betreten des Ladens wird man von einem kleinen dunkelhaarigen Mann mit einem breiten Lächeln im Gesicht begrüßt. Er trägt ein Maßband um den Hals und steht hinter einem niedrigen, mit weißen Tüchern bedecktem Dresen. Der kleine Laden ist von Antiquitäten und Kunst übersäht. Wenn man sich in dem Raum genauer umsieht, entdeckt man in einem alten braunen Holzregal Töpfereien wie Teller und Tassen. An einer Wand hängen abstrakte Bilder und die Fensterbretter stehen voller Keramikfiguren. In der Ecke steht eine Schaufensterpuppe, die ein rotes, orientalisch aussehendes Gewand trägt. Die Kunst lässt den sonst sehr kühlen, weiß gestrichenen Raum, plötzlich warm und einladend wirken. Auf dem Tresen, hinter dem der Mann steht, stehen zwei Nähmaschinen. Hinter ihm hängt eine Kleiderstange voll mit Jacken, Hemden und Hosen. Direkt neben ihm steht eine Schneiderpuppe, die einen schwarzen langen Mantel trägt. Man könnte meinen, dieses Kleidungsstück sei für ihn besonders wertvoll. Immer wieder erklärt er anhand der Puppe seine Kunst. Der Mann, der über den etwa 15 Quadratmeter großen Raum wacht, ist Schneider Rakan Ali, der Besitzer einer kleinen Schneiderei in Kulmbach.
Er ist kein typischer Ladenbesitzer
Ali ist erst seit knapp vier Jahren in Deutschland und seit zweieinhalb Jahren in Kulmbach. Er ist somit kein typischer Ladenbesitzer in der Kulmbacher Innenstadt. In seiner neuen Heimat hat er sich und seiner Familie in kürzester Zeit ein ganz neues Leben aufgebaut. Als Flüchtling kam er in Kulmbach an, hat seinen Besitz in Syrien zurücklassen müssen und startete wieder bei null. Doch der Kurde kämpft und gibt nicht auf. Schnell wird er wieder zum Geschäftsmann. Rakan Ali ist ein Beispiel dafür, was Willensstärke bewirken kann. Der kleine Mann wirkt plötzlich ganz groß.
„Mein Sohn hat deutsche Polizei gesehen und war glücklich“
Zehn Tage lang haben Ali und seine Familie sechs Länder durchquert. Wenn er über seine Heimat Syrien und die Flucht spricht, scheint es ihm nicht gut zu gehen. Schlagartig wird aus dem sonst sehr positiven Menschen, der seine Kunden mit einem strahlenden Lächeln und festem Händedruck empfängt, ein zurückhaltender, leicht verunsicherter Mann. Sein Blick geht ins Leere, die Hände werden unruhig und das Lächeln versteckt sich hinter einer kühlen Fassade. Er spricht leiser. Im Jahr 2015 beschloss der 39-jährige mit seiner Frau und seinem Sohn die Heimat zu verlassen. Er erhoffte sich ein besseres Leben, weit weg von dem Bürgerkrieg in seinem Land. Nach zehn Tagen kamen sie in Deutschland an. „Mein Sohn hat deutsche Polizei gesehen und war glücklich“, sagt Rakan Ali in gebrochener deutscher Sprache. Es sei eine große Erleichterung für die drei Syrer gewesen, die Beamten zu sehen. Die Familie habe sich nach langer Zeit wieder sicher gefühlt.
„In Syrien musst du nicht lernen, da musst du einfach arbeiten gehen“
In Damaskus war der Kurde 20 Jahre lang als Schneider tätig. Er hat bei seinem Onkel den Beruf erlernt und später den Betrieb übernommen. „Ich hatte 20 Mitarbeiter“, erzählt der Familienvater stolz. Ein erfolgreicher syrischer Geschäftsmann. Eine abgeschlossene Ausbildung in seinem Beruf hat er nicht. „In Syrien musst du nicht lernen, da musst du einfach arbeiten gehen“, erklärt Ali. Der Syrer war mit voller Begeisterung Schneider. Er ist es immer noch. Wenn Ali heute seine alte Schneiderei mit der jetzigen vergleicht, setzt er ein verschmitztes Lächeln auf. Er gibt zu, dass es in Syrien einfacher war eine Schneiderei zu führen. „In Deutschland hast du viel mehr Papier“, sagt Ali und bezieht sich damit auf die strengen Vorlagen und die vielen Unterlagen, die man ausfüllen muss, um einen eigenen Laden zu eröffnen. Auch die Miete eines Ladens ist in Deutschland teurer. Trotzdem könne der Schneider Rakan Ali in Kulmbach nicht glücklicher sein: „Ich bin sehr zufrieden. Ich habe mehr Kunden als in Syrien und der Ort hier ist sehr schön.“
Auf engem Raum von den vielen Farben und Stoffen erschlagen
Ganz bescheiden und dennoch sehr stolz präsentiert er im Hinterzimmer, dem „Lagerraum“, seine vielen Stoffe. Auf engem Raum wird man von den vielen Farben und den verschiedenen Stoffarten schon fast erschlagen. Auch original syrische Stoffe sind dabei. Wenn Ali davon erzählt, wie er Kleidungsstücke umändert oder gar neu entwickelt, strahlen seine Augen, er beginnt zu gestikulieren und erklärt ins Detail genau, wie sein Handwerk funktioniert. Voller stolz holt er unter seinem Tresen eine Mappe vor und zeigt Bilder von einer Deutschland sucht den Superstar-Teilnehmerin, deren Kleid er designen durfte.
„Ich kann nichts anderes außer das“
Der 39-jährige Schneider Rakan Ali musste in seiner Heimat einiges zurücklassen. Von dem eigenen Geschäft, zwei Häusern und seinen Liebsten musste er sich verabschieden. Als er in Deutschland ankam absolvierte der Flüchtling zuerst einen Deutschkurs. Nach dem Kurs war dem 39-jährigen schnell klar: „Ich möchte arbeiten.“ Sein Wunsch war es, hier in Deutschland wieder selbstständig arbeiten zu können und das in seinem Handwerk, dem Schneidern. „Ich kann nichts anderes außer das“, gibt er zu. Mithilfe des Kulmbacher Künstlers Andreas Schoberth gründete Ali sein „Start up“. Der Künstler stellte dem Syrer vorrübergehend einen Teil seines Ateliers kostenlos zur Verfügung und lies ihn in Kulmbach Fuß fassen. Die Integration war ein voller Erfolg. Knapp zwei Jahre später steht Rakan Ali auf eigenen Beinen und eröffnet seine eigene Schneiderei.
„Für Familie. Die Zukunft hier ist besser“
Der mutige Geschäftsmann hat gegen den Rat vieler deutscher Ämter seinen Traum verfolgt und nie aufgegeben. Kein leichter Schritt. Mit der Unterstützung von Familie Schoberth führt Schneider Rakan Ali nun schon ein Jahr lang erfolgreich ein eigenes Geschäft. Wenn Rakan von Andreas und Margit Schoberth spricht, strahlt er, in seinen Augen kann man die Dankbarkeit gegenüber dem Ehepaar förmlich spüren. Die beiden Kulmbacher sind die Betreuer der Familie Ali. Die syrische Familie wollte sich hier in Deutschland integrieren und das hat sie geschafft. „Für Familie“, sagt der Syrer immer wieder. Sie stehe für ihn im Mittelpunkt. Seine Frau hat hier in Deutschland das zweite Kind zur Welt gebracht und arbeitet nun als Lehrkraft in einer Schule. Sein 9-jähriger Sohn spielt Fußball in einem örtlichen Verein und kann laut Ali schon perfekt Deutsch sprechen. „Viel besser als ich und meine Frau“, gibt der Schneider zu und lacht.
„Ich vermisse die Heimat, aber zurück möchte ich nicht“
„Ich vermisse die Heimat, aber zurück möchte ich nicht. Die Zukunft hier ist besser“, sagt er. Wenn er über seine neue Heimatstadt Kulmbach spricht, besiegt das Lächeln die sonst etwas nüchterne Fassade. Er fühlt sich sicher und gut aufgehoben. Hier kann er sich seine Zukunft vorstellen. Ein kleiner Mann, der große Ziele verfolgt.
Vom Flüchtlingslager auf der bekannten Plassenburg bis hin zum modernsten Kindergarten in ganz Kulmbach. Die Audioslideshow umfasst einen kurzen und dennoch prägnanten Teil in der Geschichte der oberfränkischen Kleinstadt Kulmbach: Den Wandel der Kitas. Einige Großeltern können sich noch sehr gut an die Zeit nach dem Krieg erinnern. Viele von ihnen wurden zuhause von der Mutter oder der Großmutter großgezogen. Ein paar Jahre später, in der nächsten Generation, war es schon üblicher, dass Kinder in den Kindergarten gingen. Dort wurden sie allerdings nicht nur von Erzieherinnen betreut, sondern häufig auch von Nonnen. Heute kann man sich all das gar nicht mehr so richtig vorstellen. Die Erzählungen von Mama, Papa, Oma und Opa sind zwar spannend, aber ein richtiges Bild vor Augen hat man trotzdem nicht. Dieses kurze Video soll einen kleinen Einblick in die Vergangenheit ermöglichen.
Woran kann es Ihrer Meinung nach liegen, dass Kinder heutzutage weniger Interesse an Religion zeigen?
Kinder haben heute nicht weniger Interesse an religiösen Fragen. Interesse hat man dann, wenn man die Relevanz einer Angelegenheit für sich selbst erkennt. Die Relevanz der religiösen Fragen ist menschlich jederzeit akut. Man stellt sich Fragen wie: „Woher komme ich?“, „Wer gibt mir einen Sinn und ein Ziel in meinem Leben?“, „Bin ich allein oder ist da jemand mit mir unterwegs?“, „Wohin gehe ich?“, „Warum müssen Menschen sterben?“, „Was bedeutet eigentlich Leben?“, „Wie können wir miteinander in Gemeinschaft leben?“, „Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ und vieles mehr. Als meine älteste Tochter ein Kind war und eines unserer Haustiere starb, da war sie tieftraurig und weinte lange. Es half ihr, dass meine Frau mit ihr eine Beerdigung dieses Tieres mit einem Gebet vornahm. Das tröstete sie. Der Tod war so erstmals in ihr Leben getreten. Die Relevanz war da.
Und trotzdem hat man das Gefühl, dass gerade im Schulalter die Kinder und Jugendlichen den Wert von Religion weiter hinten ansiedeln. Woran könnte das liegen?
Das hängt aus meiner Sicht mit unserer Gesellschaft und mit dem Elternhaus zusammen. Denn Kinder selbst sind für mich ein unbeschriebenes Blatt, die alles annehmen, was ihnen von ihren Vorbildern vorgelebt wird. Mit der Gesellschaft hängt es zusammen, weil Kirche hier neben anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht mehr den zentralen Stellenwert hat, den sie noch vor einem Lebensalter hatte. Das hat vielerlei Ursachen, Ursachen von außen, aber auch hausgemachte. Einige Skandale der letzten Jahrzehnte haben da sicherlich auch zu beigetragen, und man übersieht, was Kirche alles Gutes tut. Mit dem Elternhaus hängt es zusammen, weil den Kindern religiöse Praxis oft nicht mehr vorgelebt wird. Damit meine ich den sonntäglichen Kirchgang, das Hausgebet – am Tisch, am Morgen oder Abend – das Lesen der Bibel. Oft ist es so, dass die Großeltern als Wertevermittler nicht mehr im Haus wohnen, sondern in weiter Ferne. Weil eben auch oft im Krankenhaus oder im Seniorenwohnheim gestorben wird und nicht mehr zu Hause, Kinder also den Tod oft nicht mehr hautnah miterleben. Nicht zuletzt spielen auch die Medien eine Rolle, die die Kinder heutzutage viel mehr beeinflussen als vor einer Generation. Sie sind heutzutage oftmals die eigentlichen Erzieher, wenn die Eltern auf die Arbeit müssen. Die Frage wäre dann umgekehrt: wie kommt der Glaube bzw. wie kommt Kirche mehr in die Medien?
Was hat sich in unserer Gesellschaft verändert, dass Eltern, die zum Teil selbst religiös erzogen wurden, genau das heute nicht mehr bzw. weniger tun?
Ich denke, hier spielen einerseits gesellschaftliche Weichenstellungen eine Rolle, die schon vor vielen Generationen gestellt wurden. Der Autoritäts- und Bedeutungsverlust von Kirchen ist ein schleichender Prozess. Im letzten Jahrhundert wurde Kirche durch Nationalismus, Nationalsozialismus, Kommunismus oder auch dann in unserer westlichen Gesellschaft durch Individualismus und Kapitalismus zurückgedrängt. Ein weiterer Grund seit dem Krieg ist sicherlich, dass es den Menschen vielleicht zu gut ging, so dass sie die Bedeutung von der Kirche nicht mehr sahen. Damals ging es auch um Machtfragen. Als die Jugend 1968 rebellierte, erachtete sie die Traditionen als altmodisch und überholt. Da wurde es schick, sich die eigene Weltanschauung zusammenzubasteln. Dann traten religiöse Fanatiker auf, die das Ansehen von Religion beschmutzten. Dazu kamen kirchliche Missbrauchsskandale. Aber es sind auch innerkirchliche Gründe: Konservative und liberale Christen stritten sich über ethische Themen. Die Individualisierung der Gesellschaft zeigte sich auch innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Neben den Großkirchen etablierten sich freie Kirchen und Gemeinschaften – Und alle traten miteinander in Konkurrenz. Da Arbeitnehmer und Schüler nur noch am Wochenende Zeit hatten, mussten Kirchen, als zusätzlicher Anbieter von Freizeitaktivitäten, auch noch in Konkurrenz zu Vereinen und anderen Kulturanbietern treten. Das alles wirkte sich auch auf die heutige Elterngeneration aus. Aber zu Ihrer Frage: Es ist nicht überall so, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr oder weniger religiös erziehen. Ich kenne auch viele Eltern, die gerade heute ihre Kinder wieder religiös erziehen, weil sie den Wert vom Glauben und der Gemeinschaft wiederentdecken. Vielleicht sehe ich hier sogar einen Trend.
Kann es sein, dass Familien die Religion heute zu „unbequem“ ist? Ich denke dabei an Argumente wie: „Der Gottesdienst ist eben zur falschen Zeit.“
Einerseits wünschte ich mir manchmal, dass Kirche mit ihren Forderungen und Vorstellungen „unbequem“ ist. Denn sie wirkt gerade für Christen, jenseits der Großkirchen, oft als zu angepasst. Hat nicht gerade Greta Thunberg gezeigt, dass man seine Überzeugung nur leben muss, um damit Erfolg haben zu können? Zeigten nicht der Klimawandel und die Corona-Krise, dass unser Lebensstil in mancherlei Dingen geändert werden muss? Findet der Gottesdienst zur falschen Zeit statt? Ich glaube, es handelt sich manchmal nur um einen Vorwand, um die Schuld von sich wegzuschieben: „Ich möchte ausschlafen oder habe keine Lust, also sind die Gottesdienstanbieter schuld!“ Ich kann zumindest nicht feststellen, dass Angebote der Kirche am Samstagabend, am Sonntagabend oder unter der Woche besser angenommen werden. Und diese Möglichkeiten gibt es ja bei uns hier in Kulmbach. Ja, zum Teil mag es an unserer Form des Angebots liegen. Oder auch an der Überzeugungskraft der kirchlichen Vertreter. Hieran können wir arbeiten. Aber teilweise liegt es auch daran, dass viele einfach nicht wollen, weil sie nicht müssen, und da kannst du noch so sehr einen Handstand in der Kirche machen. Ich frage mal umgekehrt: Sollte unsere Gesellschaft nicht den Wert von Ruhe und gemeinsamer freier Zeit, also kirchliche Sonn- und Feiertage, wiederentdecken? Auch, weil es die Schöpfung braucht? Kann der Gottesdienst nicht ein Ritual sein, das zur Entschleunigung und Besinnung beiträgt, so wie es gerade angesichts der Coronakrise gefordert wird?
Was löst das in Ihnen aus, dass immer weniger Leute in die Kirche gehen, mehr Kinder in den Ethikunterricht wechseln und immer mehr an ihrem Glauben zu Gott zweifeln? Wie haben Sie das zu Beginn ihrer Karriere wahrgenommen?
Zunächst einmal ist die Frage, ob immer weniger Menschen in die Kirche gehen. In meiner 25-jährigen Laufbahn als Pfarrer kann ich da Wellenbewegungen feststellen – je nachdem, wie gut Gemeinde zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen ist, wie sehr der Pfarrer mit seinem Engagement in der Gemeinde geschätzt wird, wie sehr er oder sie auch kluge Entscheidungen fällt und andere Menschen mit einbindet. Die Kurve kann sich dann sehr wohl nach oben verschieben. Und das habe ich auch erlebt. Durch Angebotsvielfalt und Beteiligung vieler sind immer wieder große Gottesdienstversammlungen mit voller Kirche dagewesen. Hier in Kulmbach bin ich noch nicht lang genug, um aus einer reichen Erfahrung zu schöpfen oder irgendwelche Prognosen abgeben zu können. Aber auch hier erlebe ich bereits: Wenn ein Thema die Leute anspricht und viele beteiligt sind, dann füllt das auch die Kirchen.
Wie bringen Sie als noch recht neuer Pfarrer in Kulmbach den Jüngsten in unserer Gesellschaft den Glauben näher?
Eines meiner Anliegen ist es in der Tat, bei den Jüngsten anzusetzen. Ich liebe es, mit Kindern im Kreis zu sitzen und mit ihnen biblische Geschichten durchzuspielen. Bei der Vorbereitung merke ich dann oft, dass es gar nicht so leicht ist, Dinge, die für uns Erwachsene selbstverständlich sind, Kindern beizubringen. Das ist auch immer eine Herausforderung. Aber es macht viel Spaß. Ich arbeite gerne mit Kindern. Sie sind noch so aufgeschlossen und ehrlich. Sie lachen und streiten. Und das mag ich. Ich habe selbst vier Kinder mit großgezogen, und ich glaube, das Wichtigste ist nicht einmal, was du anbietest, sondern dass du die Kinder einfach liebhast und sie dir nicht auf die Nerven gehen. Darum stört es mich auch nicht, wenn Kinder im Gottesdienst mal laut sind. Ich würde gerne noch mehr Familiengottesdienste halten. Aber im Moment bin ich durch die Coronakrise ziemlich eingeschränkt. Vieles musste und muss ausfallen. Und das tut weh. Wenn Sie nach dem „Wie“ fragen, dann ist das eine Methodik-Frage, das kann ich so pauschal nicht beantworten. Ich war ja selbst einmal klein. Ich versetze mich in die Kleinen hinein und überlege mir, was sie wohl ansprechen würde. Und ich hole mir auch Tipps aus Büchern oder dem Internet. Viel Wechsel in der Methodik ist mir wichtig: Erzählen, Singen – gerne auch mit Bewegungen – Spiel, Basteln, Essen. Die Glaubensfragen an sich, die sind aus meiner Sicht zeitlos. Ich behaupte, die Glaubensthemen interessieren jeden.
Haben Sie Angst davor, dass der religiöse Glaube immer weiter aus der Gesellschaft wegbricht?
Nein. Definitiv: nein! Wie schon oben gesagt: Die religiösen Fragen sind menschlich und werden immer da sein. Auch wenn sich die Antworten im Laufe der Jahre vielleicht ändern oder ausdifferenzieren. Ich erlebe den christlichen Glauben in der Beziehung als besonders stark, weil aus meiner Sicht die Bibel uns oftmals in Bildern und mit Überschriften antwortet und uns die Freiheit lässt, in der jeweiligen Zeit die richtigen Antworten zu finden. Auch mein Glaube hat sich im Laufe des Lebens immer verändert. Aber er ist da. Glaube bedeutet Vertrauen. Wo kein Vertrauen mehr herrscht, da ist menschliches Leben in einer zivilisierten Form gar nicht möglich. Auch wenn die christliche Liebe oft missverstanden wird: Ohne Liebe ist das Leben sinnlos. Die christliche Hoffnung ermöglicht uns erst, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Davon bin ich überzeugt.
Audioslideshow Petrikirche
Der Gottesdienst mal anders?
Denken Sie, dass es den klassischen Gottesdienst in, sagen wir, 10 Jahren noch in dieser Form geben wird?
Ja, den wird es genauso noch geben wie neben ihm noch viele andere Formen. Denn das Ritual des Gottesdienstes ist eben auch für viele Menschen ein Halt für den Alltag. Wenn alles nur beliebig ist, Form und auch Inhalt, woran soll man sich dann noch halten? Was wäre für Sie eine Alternativform? Würden Sie sich bei der Veränderung wohlfühlen? Wie gesagt, es mag eine Ausdifferenzierung geben und die gab es über Jahrzehnte. Beispiele: Pietistische „Stund“, Evangelisationen, Taizégottesdienste, pfingstlerische Heilungsgottesdienste, charismatische Lobpreisgottesdienste, Alltagsexerzitien, Freiluftgottesdienste, Thomasmesse und noch vieles mehr. All das sind für mich auch Gottesdienste, solange sie im Namen Gottes beginnen und mit dem Segen Gottes enden. Und ich fühle mich bei jedem einmal mehr und einmal weniger zu Hause. Aber als Pfarrer mache ich vieles mit, wenn die Gemeinde das wünscht.
Wer legt eigentlich den Aufbau eines evangelischen Gottesdienstes fest? Wäre es einfach ihn zu verändern?
Die katholische Messe hat sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt. Martin Luther nahm sie zum Vorbild und entwickelte aus ihr 1526 die Deutsche Messe. Im Großen und Ganzen folgt unser heutiger evangelischer Gottesdienst mit seiner Grundform 1 (G 1) immer noch diesem Modell. Das ist ein Ritus, der für Kinder (auch für mich früher) oft langweilig erscheint, weil man nicht kapiert, warum er so ist wie er ist. Es erklärt einem halt auch keiner, bis man das dann im Konfirmandenunterricht mal lernt. Ehrlich, wir sollten immer wieder einmal an gewissen Sonntagen „Gottesdienst erklärt“ feiern, wo die einzelnen Abschnitte besprochen werden und die mittelalterlichen Lieder durch moderne ersetzt werden. Aber der Aufbau des Gottesdienstes folgt einem Ritus – oder wie es Manfred Josuttis mal formulierte dem „Weg ins Leben“. Das heißt: aus dem Alltag ankommen, vor Gott treten, das vor ihn bringen, was einen bewegt – Sorgen und Schuld, Not und schließlich Lob – dann auf sein Wort hören und es vom schriftkundigen Pfarrer ausgelegt bekommen, dann mit den Nachrichten aus der Gemeinde in die Fürbitten gehen und nach dem Vaterunser den Segen für die kommende Woche mit auf den Weg bekommen. Eigentlich ein nachvollziehbares Ritual, finde ich.
Viele Kinder und Jugendliche finden den Gottesdienst, insbesondere die Predigt, oft zu langweilig oder zu lange. Was wäre Ihrer Meinung nach, eine Methode, die Predigt besonders für Kinder etwas anschaulicher zu machen?
Oh, dazu gäbe es unzählige methodische Möglichkeiten: von Kleinigkeiten wie „einmal einen Witz einfügen“ oder „gereimte Predigt“ über methodische Anschauungsmaterialien bis hin zum Einsatz moderner Medien. Wenn so etwas zu wenig gemacht wird, liegt es meistens an der mangelnden Zeit für die Vorbereitung. Weil der Pfarrer ja nicht die ganze Woche zu Hause sitzt und nur überlegt, was er am Sonntag auf der Kanzel sagen könnte. Aber ich kenne viele, die das sehr gut beherrschen.
Ist für Sie der Gang in die Kirche ein wichtiger bzw. entscheidender Bestandteil des Glaubens?
Ja. Definitiv. Ein Sonntag ohne Kirche – da fehlt mir schon was. Für mich als Privatperson, nicht nur als Pfarrer, ist meine Woche ohne einen Sonntagsgottesdienst irgendwie nicht abgerundet. Denn im Gottesdienst komme ich zu mir selbst. Und: Im Gottesdienst erlebe ich Gemeinde, und das finde ich ganz wichtig auch für meinen eigenen Glauben. Das Zusammenkommen ist ein wichtiger Bestandteil, denn der Mensch braucht gemeinsame Rituale. Egal ob das gemeinsame Singen, das Beten oder die Fürbitten, das alles gibt den Menschen Kraft und sie bekommen das Gefühl von Gemeinschaft.
Bietet die Petrikirche, neben der Konfirmation, noch weitere Anlässe, um Kinder und Jugendliche in die Kirche zu locken?
Ja, durch Taufen, durch Kleinkindgottesdienste wie den „Gottesdienst für kleine Strolche“ oder den Kindergottesdienst „Time4Kids“, das Erzählen biblischer Geschichten im Kindergarten, den Kinderchor, das Krippenspiel oder das Kindermusical. Wir haben viele Ideen. Was im Moment noch fehlt ist die Zeit, alles umzusetzen, und die Zeit seitens der Mitarbeitenden, die ja auch noch ein eigenes Leben haben. Im Moment sind wir durch Corona völlig lahmgelegt. Und dann habe ich im Bereich der Jugendarbeit auch noch das Problem, dass man viele Jugendliche mit den herkömmlichen Medien nicht mehr so leicht erreicht. Wie soll ich denn einladen, wenn Jugendliche keine Zeitung lesen? Aber Gott sei Dank gibt es hier die Evangelische Jugend, die viele Jugendliche in Kulmbach erreicht.
Die Digitalisierung in den Kirchen
Wie weit sind die bayerischen Kirchen in Sachen Digitalisierung schon vorangeschritten?
Ich denke, sehr weit. Aber viele sind da viel weiter als ich.
Was hält die Pfarrer, besonders Sie selbst, eventuell noch ein bisschen davon ab, zusätzlich auf das Digitale zu setzen?
Die Zeit und die Kompetenz. Aber ich mache ansonsten schon viel digital. In meiner letzten Gemeinde musste ich den Gemeindebrief erstellen, und der kam gut an. Seit ich in Kulmbach bin, musste ich viel digital dazulernen, und das stresst schon. Oft fehlt einfach trotzdem das nötige Know-How.
Gibt es für Sie selbst eine Grenze was das Digitale betrifft? Stichwort: Gottesdienst-Live-Übertragung im Internet, Segensroboter oder einen Glaubens-Podcast?
Gottesdienst-Live-Übertragung kann ich mir vorstellen, habe ich aber in der Form noch nicht gemacht. Aber ich glaube, ich bräuchte dazu immer eine Gemeinde. Einfach so ins Nichts hinein zu sprechen, das wäre schon komisch. Segensroboter? Nie gehört. Klingt für mich auch komisch, weil Segen was Beziehungsmäßiges, was Persönliches ist. Das kann doch keine Maschine! Glaubens-Podcast finde ich gut, habe ich aber noch nie gemacht.
Was beziehungsweise wer genau hält die Entwicklung diesbezüglich noch zurück?
Die liebe Zeit. Als Pfarrer bin ich sehr viel auf der zwischenmenschlichen Ebene unterwegs. Sprich: in realen Gottesdiensten samt Kasualgottesdiensten, bei Seelsorgegesprächen, Besuchen, im Unterricht, in Gruppenstunden, Sitzungen und vielem mehr. Und dann bleibt die generelle Frage: Brauchen wir mehr Digitalisierung und Vernetzung? Jetzt in Zeiten der Coronakrise, wo man nicht mehr aus dem Haus darf, ist die Vernetzung über die digitalen Medien ein Segen. Aber es gibt ja auch negative Folgen, wie erhöhten Stromverbrauch, Computer- und Handysucht, der Stress durch die fortwährende Erreichbarkeit, Hass im Internet oder die Anfälligkeit für Cyberattacken. Mal von normalen Zeiten ausgegangen: Brauchen wir nicht auch mal wieder mehr die persönliche Begegnung?
Der „neue“ Religionsunterricht?!
Was würden Sie von einer Zusammenführung des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts halten?
An vielen Schulen gibt es das sozusagen schon „unter der Hand“. In den Religionsgruppen sind dann katholische und evangelische (und bekenntnislose) SchülerInnen und werden von einer evangelischen ODER einer katholischen Lehrkraft unterrichtet. Manchmal ist das einfach organisatorisch die einfachere Lösung. Und natürlich spielen die konfessionellen Unterschiede im Vergleich zu früher eine viel geringere Rolle. Trotzdem finde ich es wichtig, diese noch zu benennen – weil sich darin ja durchaus auch die Vielfalt christlichen Glaubens zeigt. Es würde tatsächlich ein großer Teil religiöser Reichtum wegfallen, wenn man nur noch auf das zurückgreifen würde, was bei allen „gleich“ ist. Aber das ist sicher auch in einem ökumenischen Religionsunterricht möglich. Wichtig finde ich, dass in jedem Fall im Religionsunterricht die Grundlagen des christlichen Glaubens nicht zu knapp behandelt werden. Meine SchülerInnen melden mir immer wieder zurück, dass sie es zwar interessant finden, sich mit anderen Religionen zu befassen – aber, dass ihnen dabei die eigene Religion gelegentlich zu kurz kommt. Da muss Schule halt auch einiges auffangen bzw. „nachholen“, was nicht mehr in den Familien geschieht oder auch nicht mehr geschehen kann.
Wie denken Senioren heute eigentlich über ihre eigene Kindheit? Wie gut ist sie ihnen im Gedächtnis geblieben? Gibt es eine Erinnerung, an die man besonders gerne zurückdenkt? Und was finden die Senioren heute besser oder schlechter als früher? Wir haben uns in der Kulmbacher Altstadt über die Nachkriegszeit in Oberfranken umgehört.
Die Kinderorientierte Familientherapie (KOF) vereint Elemente des Elterncoachings und der klassischen Spiel- und systemischen Familientherapie. Vor gut zehn Jahren kam das systemische Verfahren, das auf gemeinschaftlichem Handeln im Spiel basiert, nach Deutschland. Der Norweger Martin Soltvedt entwickelte es in den 1980er Jahren. Vor wenigen Jahren brachte der Dipl. Psychologe Bernd Reiners es nach Deutschland. Die Therapie strebt danach, für eine angenehme, freudige Interaktion mit heilendem Potenzial zwischen Kindern und Eltern zu sorgen.
„Wir haben schon immer sehr
intensiv familientherapeutisch gearbeitet. Viele von diesen Maßnahmen sind aber
mehr an Erwachsenen beziehungsweise an Jugendlichen orientiert, da man viel
miteinander sprechen muss“, sagt die Dipl. Psychologin Carolin Schmidt. Sie
arbeitet als Therapeutin bei der Geschwister-Gummi-Stiftung in der Kinder- und
Jugendhilfe in Kulmbach. Bei KOF gehe es viel mehr darum, über ein gemeinsames
Spiel und die anschließende Reflektion mit Kind und Eltern, an der Interaktion
zu arbeiten. So spielt die Therapeutin gemeinsam mit dem Kind und den Eltern im
Sand und zeichnet die Spielsequenzen auf, um sie später mit den Eltern problem-
und lösungsorientiert zu analysieren. Durch das gemeinsame Spiel möchte man die
kindliche Perspektive in die diagnostisch-therapeutische Arbeit einbinden.
Die Deutsche Gesellschaft für Kinderorientierte Familientherapie definiert die Anwendungsbereiche wie folgt: bei kindlicher Aggression, Angst oder Schüchternheit, bei Kommunikationsstörungen zwischen den Eltern und dem Kind oder bei Einschränkungen in der pädagogischen Handlungskompetenz der Eltern. Genauso gut könne es bei einer Anbahnung von Adoptions- und Pflegeverhältnissen oder Sorgerechtsentscheidungen angewandt werden.
Ein Beispiel von Caroline Schmidt aus dem Buch „Neue Wege im Sand“:
Achtjähriges Mädchen:
Das Kind war unter anderem wegen Aufsichtspflichtverletzungen der Mutter und verbaler sowie physischer Gewalt durch deren Lebensgefährten gegenüber Kind und Mutter in Obhut genommen worden. Nach einigen grundlegenden Veränderungen im mütterlichen Lebensumfeld sollte mit familiengerichtlicher Zustimmung das Mädchen wieder in den Haushalt der Mutter zurückgeführt werden. Das deutlich entwicklungsverzögerte Kind hatte in der Vergangenheit wiederholt in vielen Situationen von der Mutter weder Schutz noch Hilfe erhalten, sodass emotionale Bindung und Beziehung noch belastet waren.
Durch den Einsatz der Kinderorientierten Familientherapie sollte zunächst in der Übergangsphase die Beziehung der beiden wieder verbessert werden. Im Spiel verhielt sich das Mädchen verunsichert. Mehrfach baute es den Kasten mit Spielmaterial völlig zu, sodass den anderen Spielern kaum Raum blieb. Auf Fragen der Mitspieler, die dem Spielinhalt dienten, reagierte es kaum. Meist war das Kind enorm lange mit sich beschäftigt; Kontakt zur mütterlichen Figur oder ein gemeinsames Tun entstanden kaum. Auf der Realebene suchte das Mädchen zur Bestätigung den Blickkontakt zur Mutter oder deren körperliche Nähe.
Im Rahmen der Videoreflexion konnte erarbeitet werden, welches Maß an Führung durch die Mutter das Kind einerseits benötigte, um die notwendige Sicherheit zu erhalten. Andererseits wurde in mehreren Spielsequenzen ausprobiert, welchen Raum und wie viel Zeit das Kind braucht, um sich (auf spielerischer Ebene) selbst zu finden und somit auch sicherer in den Kontakt zu gehen. Da die Mutter ebenfalls kognitiv eingeschränkt war, profitierte sie von den praktischen Eindrücken im Spiel besonders, und konnte mit Anleitung und Ausprobieren die kindlichen Bedürfnisse zunehmend besser erkennen. Auch hatte die Mutter selbst sichtlich Freude an der Methode, in der sie sich als wirksam und aktiv erleben konnte.
Nach der Rückführung zur Mutter wurde in der Fortsetzung zusammen mit den anderen Fallbegleitern an pädagogischen Themen gearbeitet wie Strukturen zu geben, Grenzen zu achten, Durchsetzungsfähigkeit zu stärken, Beziehung zu stabilisieren. Erziehungsberatung, teilstationäre heilpädagogische Versorgung in der Tagesstätte und Fortführung der Kinderorientierten Familientherapie können hier als „gemeinsamer Versuch“ verstanden werden, Mutter und Kind das Zusammenleben wieder zu ermöglichen.
Caroline Schmidt schrieb in dem Buch „Neue Wege im Sand“ (Hrsg. W. Brächter & B. Reiner) einen Beitrag über die „Kinderorientierte Familientherapie im Heimkontext“. Dabei stellt sie folgende wesentliche Merkmale von KOF vor:Gemeinsamkeit, Klarheit, Kindorientierung, Übernahme der Kindperspektive und Gefühle erkennen. Die Kinder müssen von den Eltern spüren, dass sie wertvoll, wichtig, kompetent und liebenswert sind. Sie müssen auf Verständnis, Schutz und Unterstützung vertrauen.
Die Geschwister-Gummi-Stiftung Kulmbach bietet diese Art von Therapie im stationären und teilstationären Bereich an. „Wir bieten KOF in der Hilfeplanung als Angebot vor allem bei Rückführungen von Kindern in die Familien an“, sagt Caroline Schmidt. Die Sitzungen fänden meist einmal in der Woche statt. „Wir Therapeuten achten dann gezielt darauf, wo es Schwierigkeiten im Alltag gibt, die sich auch im Spiel zeigen.“ Das Spiel werde dann individuell an jedes Kind angepasst. So nimmt man mal mehr, mal weniger Spielmaterial oder man lässt die Eltern erst später mit hinzukommen. Dabei gilt: „So viel Struktur wie nötig, so viel Flexibilität wie möglich.“
KOF sei laut Caroline Schmidt keine Methode, die spezifisch an Krankheitsbildern orientiert ist und die immer nach einem bestimmten Konzept funktioniert. KOF sei eher ein Impulsgeber, ein Baustein in einem Maßnahmenpaket und nur ein kleiner Anteil in einem großen Gebilde.
Quellen:
Das Buch: „Neue Wege im Sand“. Systemisches Sandspiel und Kinderorientierte Familientherapie von Wiltrud Brächter und Bernd Reiners (Hrsg.), Heidelberg 2018 (Carl-Auer-Verlag)
Deutsche Gesellschaft für Kinderorientierte Familientherapie
Dipl. Psychologin Caroline Schmidt, Geschwister-Gummi-Stiftung, Zentrum Familie und Erziehung
Kinder- und Jugendhilfe – Geschwister-Gummi-Stiftung
„Die gesundheitliche Situation bei Kindern und Jugendlichen hat sich in Deutschland (…) in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert.“ Das schrieb die Bundes Psychotherapeuten Kammer im Jahr 2019. So spielen Infektionskrankheiten heute nur noch eine nachrangige Rolle und psychische und psychosomatische Krankheiten gewinnen an Bedeutung. Bei Kindern und Jugendlichen sei jeder Zwanzigste von einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung betroffen. Am häufigsten sollen Störungen der Entwicklung, der Emotionalität und des Sozialverhaltens auftreten.
„Generell steigen die Fallzahlen der psychischen Störungen bei
Kindern an“, sagt auch die Dipl. Psychologin Caroline Schmidt. Sie arbeitet im
psychologischen Fachdienst als Therapeutin bei der Geschwister-Gummi-Stiftung
in der Kinder- und Jugendhilfe in Kulmbach. Dafür seien auch die zunehmenden
Störungen im Familiensystem verantwortlich. „Trennungen, finanzielle
Schwierigkeiten oder zunehmender Stress durch die Arbeit beispielsweise. Das
alles wird gleichzeitig zum Risikofaktor für Kinder.“ Caroline Schmidt hat in
den vergangenen Arbeitsjahren eine eigene Theorie dafür entwickelt, warum
Familien immer häufiger mit den oben genannten Schwierigkeiten zu kämpfen
haben: „Es sind unglaublich viele soziale Netzwerke weggebrochen, zum Beispiel
die Familienverbände, die sich gegenseitig unterstützt haben. Heute gibt es zu
viel scheinsoziales Netzwerk, über die Medien oder irgendwelche Foren; das
trägt zur Verunsicherung vieler Menschen bei.“ Hinzu komme, dass „wir eine
gestresste Gesellschaft sind“. Das alles seien Risikofaktoren.
Das Zentrum für Familie und Erziehung
Das Zentrum für Familie und Erziehung der
Geschwister-Gummi-Stiftung gliedert sich in die Bereiche: Stationärer
Wohnbereich, teilstationärer Bereich der heilpädagogischen Tagesstätten und den
Bereich der ambulanten Maßnahmen. Caroline Schmidt ist überwiegend im
stationären und teilstationären Bereich tätig. Bei Kindeswohlgefährdungen
unterstützt sie außerdem die ambulanten Kräfte als psychologische Fachkraft. Im
stationären und teilstationären Bereich arbeitet sie unter anderem als
Psychotherapeutin mit den Kindern und Jugendlichen im Einzelsetting und führt
die Diagnostiken bei Kindern durch, die in den Heimen aufgenommen werden. Zudem
erstellt sie Verlaufsdiagnostiken und übernimmt koordinierende Aufgaben, wie
Teamberatung und Elterngespräche.
Insgesamt sind zirka 80 Kinder und Jugendliche in den Wohngruppen
der Geschwister-Gummi-Stiftung untergebracht. Die Altersspanne der Kinder
reicht von eineinhalb Jahren bis hin zum jungen Erwachsenenalter. Die Kleinsten
sind in einer intensivpädagogischen Wohngruppe untergebracht, die ältesten in
den Außenwohngruppen. Zusätzlich gibt es die therapeutische Wohngruppe, in der
Kinder sind, die einen höheren therapeutischen Bedarf haben und die systemtherapeutische
Wohngruppe, in der besonders intensiv mit der Familie gearbeitet wird, um die
Kinder wieder zurückzuführen.
Wie Kinder ins Heim kommen
„Es gibt zwei verschiedene Zugangsarten, wie die Kinder in
die Heime kommen“, erklärt Caroline Schmidt. Zum einen, wenn sich die Eltern
nicht mehr dazu in der Lage fühlen – dauerhaft oder vorrübergehend – ihre
Kinder angemessen zu erziehen und zu versorgen. „Sie wenden sich dann an das
örtliche Jugendamt und beantragen Hilfe zur Erziehung.“ Das Jugendamt kümmere
sich dann, gemeinsam mit den Eltern, um eine stationäre
Wohngruppenunterbringung. Bei einem Vorstellungstermin lerne die Familie dann
die Einrichtung kennen und könne sich dafür oder dagegen entscheiden. Die
zweite Zugangsart ist die Inobhutnahme. Das passiere dann, wenn die Kinder in
der Familie akut gefährdet sind. Zum Beispiel wegen emotionaler oder physischer
Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch im häuslichen Umfeld. „Das kann kurzzeitig
auch gegen den Willen der Eltern stattfinden.“
Die Geschwister-Gummi-Stiftung setzt sich sehr stark dafür
ein, dass Kinder wieder in ihre Herkunftsfamilien zurückgeführt werden können.
„Wir arbeiten intensiver als andere Einrichtungen an einer Rückführung. So zum
Beispiel durch intensive Fachdienstarbeit, Geschwisterarbeit und
Elterntraining.“ Trotzdem gibt es laut Caroline Schmidt Kinder, die seit ihrer
Aufnahme als dauerhaft untergebracht gelten oder bei denen es sich im Laufe der
Zusammenarbeit mit der Familie ergeben hat, dass eine Rückführung nicht mehr
möglich ist.
Warum leben immer mehr Kinder im Heim?
Auf die Frage, ob man es gliedern könne, in die Kinder, die aufgrund der zu starken Belastung der Eltern ins Heim kommen und in die Kinder, die aufgrund ihrer eigenen psychischen Krankheit ins Heim gekommen sind, antwortet die Psychotherapeutin Caroline Schmidt: „Es geht immer darum, dass in dem ganzen Familiensystem eine Belastung da ist. Ich sehe das nicht so, dass man es in die zwei Bereiche konkret gliedern kann. Das ist ein gegenseitiges Bedingungsgefüge.“ Die Heime betreuen, laut der Psychologin, zunehmend Kinder von Eltern, die selbst psychisch krank sind und aufgrund dessen ihren Erziehungsaufgaben nicht mehr nachkommen können. Das habe Auswirkung auf die Kinder. Die Kinder wüchsen dann unter Bedingungen auf, die zur Vernachlässigung führen, die Verstörung und Traumatisierung bewirken können – und das, ohne ein wirklich feststellbares Trauma. „Bis zu 85 Prozent aller Kinder in der stationären Jugendhilfe sind traumatisiert und das überwiegend durch die Beziehung an sich, die sie zu Hause erlebt haben.“ Das seien die Kinder, die in ihrem häuslichen Umfeld, in ihren engsten Beziehungen, erlebt haben, dass Gefahr besteht, sodass sie Angst haben, nicht sicher zu sein.
Die therapeutische Arbeit
Der überwiegende Teil der traumatisierten Kinder habe Erfahrungen der Vernachlässigung und der Mangelversorgung machen müssen. „Meiner Einschätzung nach hat die emotional, psychische Vernachlässigung und Verwahrlosung enorm zugenommen.“ Dies passiere auch nicht immer absichtlich, das geschehe häufig in massiven Überforderungssituationen. Wenn Caroline Schmidt mit den Kindern therapeutisch arbeitet, stellt sie immer wieder fest: „Wir Therapeuten in der stationären Hilfe haben eine recht komfortable Situation.“ Sie habe erstmal keine Begrenzungen, was die Anzahl der Therapiestunden anbelangt. Außerdem sei die enge Vernetzung zwischen den internen Fachdiensten und den Wohngruppen von großem Vorteil. „Wir können kindorientierter arbeiten, ich kann mir Zeit mit den Kindern lassen.“ Und das brauche man auch oft, denn es gibt Kinder und Jugendliche, die ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Erwachsenen haben. „Wir möchten dann auch keinen Widerstand knacken oder eine Abwehr brechen; das Kind soll selbst Vertrauen finden, vor allem durch die Zuverlässigkeit und Vorhersehbarkeit aller Angebote.“ Das Gute sei, dass die Kinder die Therapeuten im Haus gut kennen. „Wir sind immer ansprechbar und können jederzeit erreicht werden. Das wissen die Kinder auch.“ Neben den Einzeltherapien werden zusätzlich Gruppenangebote, Stunden mit einer Kunsttherapeutin und Familientherapeutische Maßnahmen angeboten.
Dort wo vor hundert Jahren Tintenfässchen, Schiefertafeln und Kreidestückchen lagen, lagen vor 50 Jahren ausschließlich Bücher, Hefte und ein Federmäppchen auf einem kleinen Holztisch. Und heute? Heute stehen den Schülern, ergänzend zu den Büchern und Heften im Unterricht oft Tablets zur Verfügung. Zudem sieht man im Klassenzimmer des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur dunkelgrüne Kreidetafeln, sondern immer häufiger auch interaktive Touchdisplays. So kann der Unterricht von Schülern und Lehrkräften beispielsweise durch selbst erstellte interaktive Bücher und Erklärvideos angereichert werden. Zudem können am Touchdisplay zeitgleich mehrere Arbeitsergebnisse der Schüler betrachtet, verglichen und gemeinsam reflektiert werden.
Diese digitalen Medien integriert auch Bianca Simon in ihren
täglichen Unterricht. Sie ist Lehrerin an der Friedrich-von-Ellrodt Schule
Neudrossenfeld und gleichzeitig als medienpädagogische Beraterin digitaler
Bildung (mBdB) für die Schulamtsbezirke Bayreuth und Kulmbach tätig. Sie berät
aktuell zirka 66 Schulen und deren Schulaufwandsträger in der Stadt und im Landkreis
Kulmbach und Bayreuth, darunter ebenfalls die Schulleiter, die Lehrkräfte und
die Schüler selbst.
Eine Statistik von Duden Learnattack und YouGov hat Anfang 2019 Schülerinnen und Schüler (488), Lehrerinnen und Lehrer (204) und Eltern (419) zu den Vorteilen digitalen Lernens befragt. Auf Platz 1 landete damals bei den drei Parteien die Vielfalt der Lerninhalte, auf Platz 2 der zeit- und ortsunabhängige Zugriff und auf Platz 3 die Vorbereitung auf eine zunehmende digitalisierte Arbeitswelt.
Dass ein mündiger Umgang mit Medien unter anderem wichtig für den zukünftigen Job ist, findet auch Bianca Simon. Genauso wichtig sei es für sie, dass die Schüler das Gelernte auch jetzt schon in ihrem Alltag umsetzen können. „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“, sagt sie. „Die Schüler müssen lernen, Fake News zu identifizieren, ethnische Regeln für den respektvollen Umgang miteinander verinnerlichen, rechtliche Grundkenntnisse im Internet erwerben und einen sicheren Umgang mit sozialen Netzwerken lernen.“ Die medienerzieherische Arbeit sei also aktuell wichtiger denn je. „Begriffe wie Cybermobbing und Sexting sind leider keine Fremdwörter mehr.“ Apps wie WhatsApp, Facebook, Instagram, Youtube und TikTok sind vor allem in den höheren Klassen auf jedem Smartphone vorzufinden. Die medienerzieherische Arbeit müsse aber schon im früheren Alter geleistet werden. „Wir müssen den Kindern und Jugendlichen beibringen, welche Rechte und Pflichten sie im Internet haben und wie sie digitale Medien reflektiert und mündig einsetzen.“ Eine Statistik des Deutschen Jugendinstituts zeigt im Jahr 2016, dass im Alter von 6 Jahren 26 Prozent der Kinder das Internet nutzen. Im Alter von 8 sind es mehr als doppelt so viele: 63 Prozent. Für Frau Simon ist dies ein weiterer Grund dafür, dass Lehrer mit den Schülern schon im Grundschulalter damit beginnen sollten, medienerzieherische Themen zu behandeln und mediendidaktische Aspekte der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen.
Laut Bianca Simon braucht digitale Bildung „ohne Zweifel entsprechende Ausstattung“. Aber das sei aber bei weitem nicht alles. Sie fügt hinzu: „Denn nur mit der nötigen Ausstattung gelinge keine Medienbildung, aber ohne Medienbildung könne sich der gesamte Nutzen der Ausstattung nicht entfalten. Ausstattung und Medienbildung müssen Hand in Hand gehen.“ Die Bertelsmann Stiftung erstellte dazu im Jahr 2017 eine Statistik: Von 542 Lehrkräften gaben 26 Prozent an, die digitalen Medien häufig für Projektarbeiten zu nutzen. 50 Prozent nutzen sie nur gelegentlich. Laut Bianca Simon wäre es wichtig, die digitalen Medien an gewinnbringenden Stellen fließend in den Unterricht zu integrieren und nicht nur zur reinen Projektarbeit zu nutzen. Am beliebtesten seien laut der Lehrerin bei den meisten: Tablets, Laptops, Beamer und Panels. Das verstehe sie, denn damit könne man im alltäglichen Unterricht am agilsten arbeiten.
Um die technischen
Hilfsmittel nutzen zu können, muss man sie natürlich erst einmal besitzen.
Entscheidend hierfür sei laut Bianca Simon das Medienentwicklungskonzept, das
jede Schule erstellt. Dieses besteht aus drei Teilbereichen: dem
Mediencurriculum, dem Ausstattungsplan und der Fortbildungsplanung. Die
Schulen sollen sich bewusst darüber sein wo sie derzeit stehen, wo sie
hinmöchten und wie sie ihre Ziele erreichen wollen. Dabei solle eine enge
Kommunikation zwischen der Schule und dem zuständigen Schulaufwandsträger
gepflegt werden.
Neben vielen Vorteilen, die der digitale Unterricht bietet, liest man dennoch immer wieder, dass es zu Problemen mit der Technik kommt. Neben der unzuverlässigen Medientechnik zeigt eine Statistik der Bertelsmann Stiftung, dass auch ungeklärte Lizenz- und Datenschutzfragen sowie die fehlende Medienkompetenz einiger Lehrer ein Problem für die Schulen darstellen. Umso wichtiger sei es, dass die Lehrkräfte Fortbildungen im Bereich der digitalen Bildung erhalten. Dem Vorurteil, dass ältere Kollegen kein Interesse und kein Verständnis für den digitalen Unterricht haben, kann Bianca Simon nicht zu stimmen. Sie sagt: „Das hat absolut nichts mit dem Alter zu tun.“ Es gäbe genug ältere Kollegen, die die Neuerungen in den Schulen sehr gut fänden und äußerst engagiert und medienkompetent seien. „Die Kinder befinden sich nun mal in diesem Lebensumfeld, in dem das Digitale nicht mehr wegzudenken ist.“ Die Eltern und Lehrer sollten sich dieser Verantwortung also stellen. „Man kann ebenso wie gegen Straßenverkehr auch gegen die digitale Bildung sein. Aber das Digitale findet nun mal statt. Wenn wir die Schüler nicht darauf vorbereiten, werden sie umgefahren. Wir müssen den Schülern also beibringen, sich mündig in der heutigen Welt zu bewegen.“
Auf die Frage, ob es in ein paar Jahren überhaupt noch klassische Schulbücher und Arbeitsblätter geben wird, antwortet Bianca Simon: „Sicherlich, und das ist auch wichtig und richtig so.“ Der Wechsel zwischen Digital und Analog trage zu einem reflektierten Nutzen bei. „Das ist genau das, was die Schüler unter anderem als Kompetenz erwerben sollten.“ Auf die Frage, ob sie das Digitale oder Analoge bevorzugt, sagt sie: „Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern immer um ein Sowohl-als-auch.“
Begegnungen zwischen Jung und Alt stärken das Verständnis füreinander. Gemeinsam lernen, lauschen und lachen – ein Projekt auf Augenhöhe. Geht da nicht noch mehr?
„Ich glaube, das kann ich nicht“,
sagt die Rentnerin leise. Die Schülerin Celina reagiert gekonnt: „Probieren Sie
es doch mal. Was genau möchten Sie denn basteln?“ fragt Celina die im Rollstuhl
sitzende Seniorin, die erst etwas später zum Basteltisch dazugekommen ist. „Wie
bitte?“, fragt die Dame im blauen Pullover. Celina spricht lauter: „Wollen Sie
lieber einen Vogel, einen Hasen oder eine Blume basteln?“ „Ach, halt das was am
einfachsten ist“, erwidert die gut zurechtgemachte Dame mit einem schüchternen
Lächeln. Celina zückt die Schablone der Blume und legt Ingrid Söllner (Name
geändert) Buntstifte zurecht. „Das Ausmalen können Sie auf jeden Fall selbst
probieren“, ermutigt sie die Seniorin. Diese lächelt und hat sichtlich Freude
daran, mit dem Mädchen ein Bild zu gestalten.
Das Projekt
Celina und ihre drei Klassenkameradinnen Nina, Vanessa und Lea sind Achtklässlerinnen an der Carl-von-Linde-Realschule in Kulmbach. Seit zirka fünf Monaten besuchen sie alle zwei Wochen das Heiner-Stenglein-Seniorenheim nach ihrer regulären Schulzeit. Dort basteln, kochen, backen und spielen sie mit den Rentnern. Alle vier sind im Sozialzweig und konnten sich aus freiwilligen Angeboten neben der Schule ihre Favoriten auswählen. Die Kooperation zwischen der Realschule und dem Seniorenheim gibt es laut der Sozialpädagogin Silvia Bauernfeind, die das Projekt von Seiten des Altenheims betreut, schon vierzehn Jahre und sei „eine große Bereicherung für beide Parteien“. „Es ist so spannend, das Agieren zwischen den Senioren und den Jugendlichen zu beobachten. Was dabei für Gesprächsthemen und Ideen entstehen ist der Wahnsinn.“
„Es soll nicht so aussehen, als wäre es dieses typische Altenheim Basteln“, stellt Silvia Bauernfeind klar, während sie mit Schere, Stiften und buntem Tonpapier in den Speisesaal läuft. Das graue, stürmische Wetter lässt es nicht zu, dass viel Licht in den großen Raum fällt und dennoch wirkt der Saal freundlich und hell. Mit einem freundlichem, aber nicht übertriebenen Lächeln, läuft Silvia Bauernfeind zwischen den vielen Tischen umher. Mit ihrer lockeren, flapsigen Art schafft sie es immer wieder für Gelächter im Raum zu sorgen. Nachdem sie die Bastelutensilien auf dem langen hellbraunen Tisch, an dem sich mittlerweile knapp zehn Rentner versammelt haben, abstellt, holt sie eine weise Plastikschüssel hervor, in der sich zahlreiche Gummibärchen und Schokoriegel befinden. „Kommt, greift zu“, fordert sie, während sie sich auf den Weg zu vier Schülerinnen macht, die gerade ihre Schulranzen und Jacken im hinteren Eck des Raumes ablegen.
Erlebnisse zwischen den Schülern und den Senioren
Als die Schülerin Celina über die letzten Nachmittage mit den Senioren nachdenkt, muss sie schmunzeln. „Letztens hat mich der Herr Bernbusch (Name geändert) gefragt wie ein Smartphone funktioniert und was ein Hashtag ist“, erzählt sie und beginnt zu lachen. Ihre drei Kolleginnen beginnen auch zu lachen. Sie können sich scheinbar an die Situation erinnern. „Da merkt man, dass die Senioren was neues digitales von uns lernen möchten“, ergänzt Celina mit einem stolzen Lächeln. „Ja, ich finde auch dass sie sich für uns interessieren, sie fragen zum Beispiel nach, wie es in der Schule läuft oder wie es uns geht. Aber sie erzählen natürlich auch gerne von sich und von ihrer Jugend“, sagt Lea, die in ihrer etwas zurückhaltenden Art plötzlich spürbar auftaut, wenn sie von der gemeinsamen Zeit mit den Senioren spricht. „Sie haben ja auch deutlich mehr Erfahrung als wir, also finde ich es auch immer cool, wenn sie etwas von ihrem Leben erzählen“, meint Celina.
Soziales Engagement von Schülern
Die vier Mädels scheinen für ihr
junges Alter schon sehr zielorientiert zu sein und haben größtenteils schon
Pläne, die sie in der Zukunft verfolgen möchten. Die sozialen Projekte, die
neben der Schule angeboten werden, sollen ihnen dabei sehr geholfen haben.
„Klar will ich später auch was Soziales machen.“ Die Antwort von Lea kommt wie
aus der Pistole geschossen. Die 13-jährige ist schon von klein auf in
Pflegeheimen gewesen, da ihre Mutter in diesem Bereich arbeitet und sie immer
mitgenommen hat. Lea engagiert sich zusätzlich in ihrer Schule beim
Sanitätsdienst. „Das möchte ich später auch einmal machen, ich möchte
Rettungssanitäterin werden“, verdeutlicht die Schülerin mit einem starken
Gesichtsausdruck, als würde nichts anderes mehr in Frage kommen. Ihrer
Klassenkameradin Celina hat das Projekt in einer anderen Art und Weise die
Augen geöffnet. „Ich gehe zusätzlich zu den Nachmittagen im Altenheim auch noch
in einen Kindergarten, um dort nach der Schule auszuhelfen. Das macht mir
beides viel Spaß, aber ich habe gemerkt, dass ich nichts Soziales als festen
Beruf machen möchte.“ Silvia Bauernfeind kommt zufällig zum Gespräch dazu und legt
für einen kurzen Moment die Süßigkeitenschüssel zur Seite. „Ich finde es
wirklich klasse, dass es jedes Jahr aufs Neue Schüler gibt, die sich überhaupt
für dieses Projekt engagieren. Ich möchte aber auf gar keinen Fall, dass die
Schüler denken, ich möchte sie zu einem sozialen Beruf drängen. Ich hoffe
einfach, dass sie in der Zukunft immer mal an diese Momente zurückdenken und
stolz auf sich sind“, sagt sie während sie die vier Schülerinnen mit strahlenden
Augen anschaut. Sie sei allgemein sehr stolz auf das Engagement bei
Jugendlichen im sozialen Bereich. „Ich finde es toll, dass sich sozial
eingestellte Schüler oft sogar für mehr als ein Projekt in ihrer Freizeit einsetzen.
Die soziale Arbeit, auch die ehrenamtliche, sollte sich noch viel mehr verbreiten.“
Warum Kreativität gesund ist
„Warum Kreativität gesund ist“ – der Senioren Ratgeber der Apothekenumschau veröffentlichte Anfang des Jahres einen Bericht zu diesem Thema. „Kreative Beschäftigung ist nicht nur bereichernd, sie kann auch ein Begleiter auf dem Weg eines gesunden und guten Alterns sein“, sagte der Frankfurter Psychiatrie-Professor Johannes Pantel in diesem Bericht. Er verfolgt schon länger Studien zu diesem Thema. Ein Experiment in den USA, bei dem Senioren regelmäßig zu Kunstkursen gingen, bewies, dass diese Rentner seltener zum Arzt müssen, weniger Medikamente nehmen und sich insgesamt gesünder und geistig fitter fühlen. Für Silvia Bauernfeind ist klar, dass den Senioren neben der kreativen Arbeit auch das Miteinander mit Kindern gut tut. Deshalb soll es nach außen, nicht so wirken, als würden alte Leute nur ein bisschen basteln. Das große Ganze solle mehr betrachtet werden. „Ich stelle immer wieder fest, dass die Senioren viel aufgeschlossener und kreativer sind, wenn die jungen Leute bei uns sind. Mit mir würden sie solche Aktionen nie so lange durchziehen“, meint Bauernfeind. „Und das liegt nicht daran, dass ich meinen Job nicht gut mache“, scherzt sie. Es seien die Jugendlichen, die eine andere Motivation bei den Senioren hervorrufen.
Witze, Geschichten von früher und vor allem viele Fragen. Neben dem hochkonzentrierten Basteln der Fensterbilder gibt es auch Phasen, in denen viel gescherzt, gelacht und erzählt wird. Während eines lustigen Gesprächs zwischen Frau Müller (Name geändert) und Lea zückt Silvia Bauernfeind die Kamera. Sie nimmt Frau Müller und Lea als Hauptmotiv. Die Seniorin Müller bleckt die Zunge: „Ich bin aber auch so verrückt“, sagt sie und lacht. „Das sind wir hier doch alle“, entgegnet die Sozialpädagogin und lacht mit.
Was das Ganze bewirken kann
Es sind etliche Vogel-, Kaninchen- und Blumenfensterbilder zusammengekommen. Einige wurden bemalt, andere nur ausgeschnitten. Nach knappen eineinhalb Stunden schreitet Silvia Bauernfeind ein. „Wir müssen langsam zum Ende kommen. Überlegt euch schon mal, was wir das nächste Mal machen können“, fordert die Sozialpädagogin die Schülerinnen und die Rentner auf. Frau Kraus (Name geändert) bringt direkt den ersten Vorschlag. Bislang hat die Seniorin nicht viel gesagt und sich mehr aufs Basteln fokussiert. „Ich möchte gerne ein Osternest basteln, das ich dann aufstellen kann“, sagt sie mit einem leicht fragenden Unterton und weit aufgerissenen Augen. Auch Schülerin Nina, die sich sonst eher ein bisschen zurückhält, hat einen Vorschlag: „Wie wäre es mit Salzteig? Da könnten wir Formen ausstechen und die dann mit Zahnstochern personalisieren.“ Auch Frau Müller, die heute laut Silvia Bauernfeind besonders gut gelaunt sei, meldet sich zu Wort: „Wieso stricken wir nicht mal?“ Lea, die direkt neben ihr sitzt, schaut erschrocken: „Oh, das kann ich nicht.“
Genau dafür ist dieses Projekt vorgesehen. „Ich möchte Jung und Alt zusammenbringen, damit sie voneinander lernen können, sich austauschen und das Miteinander genießen können“, sagt Bauernfeind. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligen-Zentren veröffentlichte ihr Projekt „Generationsübergreifendes Lernen“, welches durch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration gefördert wird, in einem Handbuch. Sie begründen die Notwendigkeit von generationsübergreifendem Lernen wie folgt: „Das Wissen verändert sich rasant, dadurch muss Wissen weitergegeben werden, aber eben nicht nur von Älteren zu Jüngeren, sondern auch umgekehrt. Der Prozess wird so wechselseitig.“ Sie fordern: „Die Aufgabe von Engagement fördernden Einrichtungen muss es unter anderem sein, Begegnungsräume zu schaffen, um den Austausch zwischen den Generationen zu ermöglichen.“ Genau das würde sich auch Silvia Bauernfeind wünschen. „Die Senioren reden Tage danach noch von den Jugendlichen. Ich fände es toll, wenn die Möglichkeit Jung und Alt zusammenzubringen, häufiger genutzt werden würde.“
Frau Kraus, die den Vorschlag mit dem Osternest gebracht hat, scheint ein wahres Basteltalent zu sein. „Ich habe früher schon sehr viel und sehr gern gebastelt.“ Sie freut sich jedes Mal auf die kreativen Nachmittage mit den Schülerinnen. Von einer Blume direkt zur Nächsten. Frau Kraus hört gar nicht mehr auf. Zum Schluss wird noch verziert. Die Kaninchen bekommen Augen und einen Schwanz, die Blumen werden bunt bemalt und der Vogel bekommt Flügel. Höchst konzentriert und perfektionistisch geht Frau Kraus das Basteln an. „Noch fünf Minuten, dann müssen die Mädchen gehen“, sagt Silvia Bauernfeind im Hintergrund. Frau Kraus scheint es überhören zu wollen. Sie reagiert nicht und bastelt unbeeindruckt weiter. Als die Mädchen zusammenpacken und gehen möchten, hält Frau Kraus ihre Blume stolz, aber wortlos nach oben. Sie hat in kürzester Zeit aus dem einschichtigen Fensterbild eine mehrdimensionale Blume gezaubert. Das „typische Altenheim Basteln“ wurde zu einem Kreativnachmittag, von dem Jung und Alt profitieren.
Die stellvertretende Landrätin von Kulmbach Christina Flauder im Interview
Christina Flauder ist seit vielen Jahren Mitglied in der Landessynode der evangelischen Kirche in Bayern und erzählt uns im Interview einiges über ihre eigene Kindheit in Oberfranken und über ihren Glauben zu Gott und wie er sie durch ihr Leben begleitet hat.
Die Fragen
Ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Zeit , die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist? (1:00)
Wurden Sie von Anfang an religiös erzogen? (1:26)
Hat das Interesse an der Religion in ihrem Jugendalter einmal abgenommen? (1:50)
War die Religion früher strenger und strikter als heute? (2:31)
Gab es eine Zeit oder einen Moment in ihrem Leben wo sie am Glauben zu Gott gezweifelt haben? (2:56)
Die stellvertretende Landrätin von Kulmbach Christina Flauder im Interview
Sarah Schmidt (von links), gemeinsam mit dem Studienleiter Thomas Nagel und der stellvertretenden Landrätin von Kulmbach Christina Flauder.
Christina Flauder ist seit mehreren Jahren Mitglied in der Landessynode der evangelischen Kirche in Bayern und erzählt uns einiges über ihren Glauben zu Gott und wie sie sich die Zukunft der Kirche, auch in Bezug auf den Stellenwert der Religion, in Kulmbach vorstellt.
Die Fragen
Sind Sie der Meinung, dass die Religion ein wichtiger Bestandteil in der Erziehung von Kindern ist? (1:00)
Finden Sie es richtig und wichtig, dass Eltern ihre Kinder in den zur Konfession passenden Kindergarten schicken? (1:38)
Kann es sein, dass der Religionsunterricht in den Schulen aktuell zu kurz kommt? (2:09)
Müsste man die Religion – ganz allgemein – heutzutage moderner und offener gestalten, um Jugendliche besser anzusprechen? (2:43)
Gab es eine Zeit oder einen Moment in ihrem Leben, wo sie am Glauben zu Gott gezweifelt haben? (3:35)